Trampen nach Norden

118 min | Abenteuer, TV-Film | FSK 12
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Filmkritik

Der mit Tragriemen ausgestattete Seesack, den Gunnar (Axel Kaboth) mit sich führt, ist einigermaßen unhandlich. Der Jugendliche trägt ihn mal quer über den Schultern, dann wieder wie einen Rucksack. Er gehört seinem Bruder, einem Matrosen, der vor seiner viermonatigen Schiffsreise nach Sumatra noch Zeit mit seiner Freundin verbringen will. Es sind Sommerferien. Der 15-jährige Gunnar hat viel Muße und gute Laune und beschließt, das sperrige Gepäckstück per Anhalter an die Ostsee zu befördern. Denn der lebenslustige Junge möchte Abenteuer erleben.

An einer Tankstelle vor den Toren Berlins, wo sich eine ganze Schlange von Trampern gebildet hat, geht die Reise los. Während seine Konkurrenten um die Mitfahrplätze in Trabis, Ladas oder Wartburgs buhlen, hält vor Gunnar unverhofft ein in die Jahre gekommenes Motorrad an. Der Fahrer ist ein älterer Professor (Herwart Grosse), der manche Lebensweisheit von sich gibt und sich milde über Gunnar mokiert, der auf dem Soziussitz mitfährt.

Bauchklatscher vom Fünfer

Für den Geschmack des Jugendlichen schleicht das Fahrzeug viel zu langsam über die Landstraße. Seine Geduld ist endgültig überstrapaziert, als der Professor auch noch die 13-jährige Teresa (Silvia Mißbach) mitnimmt, die den Zug ins Ferienlager verpasst hat. Irgendwo im Brandenburgischen ist für beide dann aber Schluss. Der Professor ermahnt Gunnar, ein „Kavalier“ zu sein und auf Teresa aufzupassen. Gunnar ist darüber nicht erfreut, möchte dem hübschen und vor allem schlauen Mädchen aber imponieren. Mit einem Bauchklatscher vom Fünfmeter-Turm im Freibad und einem verlorenen Boxkampf gegen einen kleineren Jungen kann Gunnar bei Teresa jedoch nicht punkten.

Weiter geht es im Pkw eines Pastors (Winfried Glatzeder). Der ist auf dem Weg zu einem Sterbenden. Die nächste Wegstrecke absolvieren die beiden Teenager zu Fuß. Dann stoßen sie auf einen eitlen Schauspieler (herrlich selbstironisch: Otto Mellies), den Teresa verehrt. Der lässt Gunnar und einen Lkw-Fahrer den kaputten Reifen seines roten Cabrios wechseln und braust dann mit Teresa davon. Von Berlin bis Rostock sind es zwar nur etwa 225 Kilometer, doch Gunnar muss noch einiges an Wegstrecke absolvieren.

Road Movie made in GDR

In dem vergnüglichen Road Movie made in GDR von Wolfgang Hübner reißen die Abenteuer nicht ab. Dieses Genre kam in DEFA-Filmen selten vor, versprach es doch eine Leichtigkeit und Freiheit, die der Staat den Bürgern östlich der Elbe nicht ohne weiteres zugestand. Doch der Film stammt aus den liberalen 1970er-Jahren. Junge Menschen mit langen Haaren und in Jeans bestimmen das Bild. Der lose auf dem gleichnamigen Roman von Gerhard Holtz-Baumert basierende Film setzt ganz auf den Identifikationsfaktor und kreiert mit Gunnar eine Figur aus der damaligen Zeit. Der dunkelblonde 15-Jährige mit Ringel-T-Shirt, Strickpullover und abgetrennter linker Gesäßtasche ist ein moderner Hans im Glück: naiv, tollpatschig, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Zwar beweist er immer wieder Berliner Schnauze und eine gewisse Großspurigkeit, insbesondere bei einem Herumgockeln vor Teresa. Doch zugleich schlägt er sich wacker und ist klug genug, im Laufe seiner Odyssee von erfahreneren Bekanntschaften zu lernen. Einmal rettet er eine alte Frau aus einer brenzligen Situation, dann wiederum bereitet er Bauern das Frühstück vor dem Ernteeinsatz auf einer LPG vor und wird mit einer weiteren Motorradfahrt belohnt.

Dennoch vergisst der fürs DDR-Fernsehen produzierte Film mit ostdeutschem Staraufgebot – neben Grosse, Glatzeder und Mellies sind auch Edwin Marian und Walfriede Schmitt mit dabei – aber keineswegs seinen pädagogischen Auftrag. So begegnet man regelmäßig Lehrsprüchen und narrativen Konstellationen, die Liberalität und Staatstragendes vereinen wollen. Bei dem Pastor hat man es etwa mit einem ebenso gebildeten wie modernen Humanisten zu tun. Er klärt Gunnar und Teresa auf, dass die Auferstehung kein „biologisch-materieller“ Prozess sei. Teresa, Tochter eines SED-Schuldirektors, beteuert, auch schon Kirchen besucht zu haben und verliert später nur gute Worte über den Kirchenmann. Der Theodor Storm deklamierende berühmte Schauspieler mit der pathetischen Ausdrucksweise und dem selbstsüchtigen Handeln wirkt dagegen hohl und unaufrichtig. Das böse Karma eines Betrügers im Westwagen Mercedes wird durch einen tüchtigen LKW-Fahrer, hilfsbereite Sowjetsoldaten oder eine Gruppe junger thüringischer Radler aufgewogen. Die nehmen Gunnar auf besonders originelle Weise mit: Sie sind zu fünft und joggen abwechselnd ein Stück der Wegstrecke, während Gunnar das jeweilige Rad fahren darf.

Eine (n)ostalgische Zeitreise

„Trampen nach Norden“ wirkt heute wie eine (n)ostalgische Zeitreise in eine lange zurückliegende Epoche. Vieles wirkt unkompliziert, Fremde avancieren schnell zu Vertrauten und alle halten zusammen. Gunnars sperriges Reisegepäck liegt oft unbeaufsichtigt herum, und jede und jeder wünscht ihm auf seiner Tour nach Rostock viel Glück. Einwohner aus allen Teilen der DDR – Sachsen, Thüringer, Norddeutsche und Berliner – bevölkern den sonnigen Sommer- und Urlaubsfilm, der die Unbeschwertheit der Jugend atmet. Dass Gunnar dabei Thüringer mit Sachsen gleichsetzt, wird ihm nicht sonderlich angekreidet, zeugt aber von der Arroganz der damaligen Ostberliner, die einige Privilegien genossen.

Nicht zuletzt ist „Trampen nach Norden“ aber auch ein Coming-of-Age-Film. Innerhalb von eineinhalb Tagen wird Gunnar zwar nicht erwachsen, doch er spürt zarte Liebeswirren und entdeckt Eifersucht und männliches Imponiergehabe. Dabei agiert er auf so ungelenke wie liebenswerte Weise, dass man ihm bei seiner Mission Richtung Ostsee eigentlich immer die Daumen drücken möchte.

Veröffentlicht auf filmdienst.deTrampen nach NordenVon: Kira Taszman (31.7.2025)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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