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Filmkritik
Wasser ist ein Element, in das sich der Schriftsteller Bernard (Lenn Kudrjawizki) gerne flüchtet. Manchmal im Schwimmbad, meist aber in seinen Tagträumen. Mal taucht er in ein blubberndes Loch, dann wieder schwimmt er in einem großen blauen Gewässer etliche Meter unter der Oberfläche, ehe er in seiner Realität auftaucht. Auch sein Alltag weist seltsam irreale Komponenten auf. So ist Bernards Mitbewohner ein Schaf namens Fiete, und seine Designer-Wohnung strahlt eine besondere Kühle und Leere aus. Die Räume sind in dunklen anthrazit-blauen Tönen gehalten, zu denen auch Bernards Garderobe passt. Arbeiten muss er scheinbar nur selten. Dafür besucht er regelmäßig seinen Vater Carlos (Michael Hanemann) und führt mit ihm Gespräche, die stets denselben Tenor haben. Bernard wirft seinem Vater vor, ihn ständig schonen zu wollen. Er sei aber nicht mehr 12 Jahre alt; Carlos brauche ihm also nicht vorzugaukeln, dass es ihm gut gehe oder dass das Essen schmecke.
Der mit einem melancholischen Gesichtsausdruck durchs Leben wandelnde Schriftsteller fährt regelmäßig mit der U-Bahn. Sie erinnert in ihrer spartanisch-dunklen Atmosphäre an seine Wohnung. Manchmal begleitet ihn seine Freundin Agata (Sophie Mousel), doch die beiden geraten schnell in Streit. Agata wirft ihm vor, innerlich immer abwesend zu sein und sie nicht einzubinden; er wolle gar nicht mit ihr kommunizieren.
Zwischen Realität und Imagination
Eines Abends wird Carlos auf der Straße Opfer eines Überfalls. Ein Unbekannter mit entstelltem Gesicht schlägt den alten Mann scheinbar grundlos nieder. Im Krankenhaus wird dann ein bösartiger Hirntumor entdeckt. Carlos’ Aussichten stehen schlecht. Wenn er sich nicht operieren lässt, hat er nicht mehr lange zu leben; allerdings liegen die Chancen, den Eingriff zur Entfernung des Tumors zu überleben, auch nur bei 50 Prozent.
Der in getragenem Tempo inszenierte Film „Der Kuss des Grashüpfers“ changiert zwischen Realität und Imaginiertem, wobei die Übergänge fließend sind und reichlich Platz für surreale Momente bleibt. Regisseur Elmar Imanov gesteht seinem einsamen Protagonisten nicht allzu viele offen gezeigte Gefühle zu. Ganz offensichtlich ist der in sich gekehrte Grübler auf der Suche nach einer Nähe, die ihm weder der Vater noch die schöne, aber fordernde Freundin bieten können. Dem Vater kreidet er an, ihm immer nur eine „fürsorgliche Distanz“ oder „kühle Geborgenheit“ entgegengebracht zu haben. Er spürt, dass ihm mit dem Vater nicht mehr viel Zeit bleibt; deshalb möchte Bernard unausgesprochene Dinge klären. Doch der Vater weigert sich und zieht es vor, einige seiner Geheimnisse mit ins Grab nehmen.
„Der Kuss des Grashüpfers“ ist ein Film über Sprachlosigkeit, aber auch über den Beschützerinstinkt, den Eltern auch dann noch verspüren, wenn sich die Verhältnisse alters- und gesundheitsbedingt umgekehrt haben. In puncto Eigensinnigkeit geben sich Vater und Sohn aber nicht viel: Bernard bohrt, Carlos mauert. An greifbaren Erkenntnissen kommt für den Sohn wenig heraus. Dennoch reproduziert er das Verhalten seines Vaters gegenüber seiner Freundin, die das ihrerseits nicht mehr erträgt.
Das Prinzip der Wiederholung
Darf man hochbetagte Eltern zu einer Lebensbeichte drängen? Haben die Eltern nicht auch das Recht, ihre Traumata für sich zu behalten? Zum einen wollen sie ihre Kinder schützen, zum anderen verfügen sie vielleicht nicht immer über die Worte, um diese zu beschreiben.
Um die verbalen Schwächen der Figuren auszugleichen, bedient sich „Der Kuss des Grashüpfers“ einer reichen Bildsprache mit vielen absurden bis surrealen Szenen. Dazu nutzt Imanov das Prinzip der Wiederholung. Immer wieder sucht Bernard dieselben Orte auf: seine Wohnung, das Apartment von Carlos, die U-Bahn. Weiter kommt er damit jedoch nicht. Also imaginiert er Szenen des Ausbruchs aus seiner festgefahrenen Routine. Einmal besuchen Bernard und Carlos zu nächtlicher Stunde eine merkwürdige Party. Dafür müssen sie sich kostümieren. Morgens um 3:09 Uhr warten sie an einem utopisch anmutenden U-Bahngleis auf den Zug, der sie zu einem Rave in einem unterirdischen Gewölbe bringt. Es ist ein riesiges Verlies mit abgetrennten Kabinen und einer Tanzfläche für alle. Während des Happenings küsst Bernard ein mannshohes Insekt, offenbar den titelgebenden Grashüpfer, der hin und wieder in verschiedenen Größen zu sehen ist. Bernard ist bestrebt, den Vater in sein Leben einzubinden, auch in diese Szene-Party, wo der alte Mann eigentlich nicht hinpasst.
Doch selbst die abtrusesten Szenen werden als solche nicht ausgewiesen. Alles wirkt wie in einer alternativen Wirklichkeit, deren Mechanismen die Figuren bedienen, obwohl sie diese nicht immer verstehen. Einmal vollführt Bernards junger Nachbar eine anmutige akrobatische Einlage, indem er das Zimmer nur auf den Möbelstücken durchquert, um Bernard zum Tee eine Süßigkeit zu reichen. Er achtet darauf, mit den Füßen ja nicht den Boden zu berühren. Dazu ertönt ein schmachtendes türkisches Lied. Im Anschluss legt Bernard seinen Kopf auf den Schoß des jungen Mannes, der ebenfalls Carlos heißt, und lässt sich den Kopf streicheln.
Im Reich der Fantasie
Auf diese Weise erfüllt Bernard sich seine Wünsche in der Fantasie. Dann aber mahnt eine allegorische Szene das Ende der Kindheit an, die mit dem Abschied vom Vater eintreten wird. Auf der Straße fährt ein Müllwagen vorbei, der seine Fracht verliert: Bälle, Kuscheltiere, Bauklötze. Bernard liest eine Tanzpuppe auf, ein in der Sowjetunion – aus der sowohl der Regisseur Elmar Imanov wie auch der Hauptdarsteller Lenn Kudrjawizki stammen – verbreitetes Spielzeug mit klimpernden Augen, die sich irgendwann aber nicht mehr öffnen. Die Realität hat Bernard hingegen nicht viel zu bieten. Zu oft stößt er auf herzlose Menschen wie eine empathielose Ärztin oder einen stumpfen Mitarbeiter des Jobcenters. Das gilt auch für einen blutjungen, wenig kompetenten Polizisten, der allerdings mit viel schwarzem Humor charakterisiert wird. Solche Momente konterkarieren die Schwermut des Protagonisten, statten aber auch andere Figuren mit Ticks und Besonderheiten aus. So ernährt sich Carlos’ namenloser Aggressor, der dem „Elefantenmensch“ ähnelt, in seiner Arrestzelle nur von Wassermelonen-Kaugummis; jeder habe eben Vorlieben, befindet der junge Polizist. Dennoch spürt man im Umgang mit Carlos, dass alte Menschen für die Polizei nicht zählen.
Auch Bernard empfindet diesen Zeitdruck und will die Momente mit seinem Vater umso krampfhafter und verzweifelter festhalten – erntet aber doch nur Stagnation. Auf diese Weise ist dieser mit einem hervorragenden Trio besetzte Film, aus dem der zurückgenommen und gleichzeitig so trotzig aufspielende Michael Hanemann herausragt, eine beeindruckende Reflexion über einen bevorstehenden Abschied, über das Klammern und eine forcierte Emanzipation, die gegen Ende in einer luftigen Traumsequenz gipfelt.