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Filmkritik
Vom All aus sieht die Welt ganz ordentlich aus. Nur, dass von dort aus keiner der Pariser Jugendlichen aus den verarmten Vorstädten je einen Blick auf den blauen Planeten geworfen hat. Die Augen der Heranwachsenden starren vielmehr auf Plexiglas und Polizeistiefel einer rabiaten Spezialtruppe, die für ihr blutiges Vorgehen berüchtigt ist. Als der 16-jährige Abdel beim Verhör im Polizeirevier so misshandelt wird, dass er in Lebensgefahr schwebt, flackern schwere Unruhen auf: nächtliche Straßenschlachten, brennende Autos und Schulen, Verletzte auf beiden Seiten.
24 Stunden im Leben dreier Freunde
Die Situation droht zu explodieren, als einem Zivilfahnder die Pistole gestohlen wird. Vinz (Vincent Cassel) schwört, mit dieser Waffe einen Polizisten zu töten, wenn Abdel stirbt. Zusammen mit Said (Saïd Taghmaoui) und Hubert (Hubert Koundé) schlägt er sich durch die nächsten 24 Stunden, in denen die Emotionen in der Trabantensiedlung überkochen.
Der Revolver verändert das Gefüge der drei Freunde. Hubert, der schwarze Pazifist, der dem ohnmächtigen Hass der Jugendlichen mit Kampfsport und hartem Training entgegentritt, rückt von Vinz ab, ohne ihn im Stich zu lassen. Der kleine Araber Saïd dagegen, der sich mit gelegentlichen Drogendeals durchs Leben schlängelt, ist von Vinz' neuer Stärke hin- und hergerissen, weil er hinter den Parolen des jüdischen Großmauls erstmals wirkliche Macht spürt.
Zwischen Mehdi Charefs „Tee im Harem des Archimedes“ (1985) und dem Spielfilm von Mathieu Kassovitz liegen nicht nur zehn Jahre Zeitabstand. Obwohl beide Filme thematisch eng verwandt sind und tief in das Leben der tristen Wohnghettos eintauchen, die Paris wie einen Kokon umgeben, liegen Welten zwischen ihnen. Die verspielten Streifzüge von Charefs jugendlichen Außenseitern sind bei Kassovitz einem bitteren Naturalismus gewichen, der schonungslos und krass von der Härte der „Banlieues“, der verarmten Sozialwohnungssiedlungen, erzählt.
Schwarz-weiße Bilder, harte Schnitte
Dass hier eine Zeitbombe tickt, wird nicht nur durch den Plot oder die Zeit-Inserts greifbar, die aus der Geschichte eine Art Protokoll machen. Ungerührt dokumentiert die Kamera das Versagen der Politik: endlose Betonlandschaften, in denen Einwanderer, Illegale oder „sozial Schwache“ hausen, Menschen ohne Arbeit und festes Einkommen, die sich mit Gelegenheitsjobs und Kleinkriminalität über Wasser halten. Eine Welt ohne Zukunft vor allem für ihre Heranwachsenden, die nur herumhängen, Joints rauchen und ihr Leben mit endlosem Warten verbringen.
Die Wucht, mit der Kassovitz in die Auseinandersetzungen der drei Protagonisten zieht, resultiert aus der filmischen Gestaltung, aber auch aus dem hervorragenden Spiel der Hauptdarsteller, die der Geschichte ein hohes Maß an Authentizität verleihen. Schwarz-weiße Bilder, harte Schnitte und die ausschließliche Verwendung von Originaltönen erzeugen einen bedrängenden Alltagsrealismus, der nicht nur den „sozialen Riss“ durch die französische Gesellschaft spürbar macht, sondern auch ein Gefühl für die Ausweglosigkeit der Protagonisten vermittelt. Wie sehr es dem 27-jährigen Kassovitz trotz seiner ungeteilten Sympathie für die Bewohner der Banlieue dennoch gelingt, die Balance zwischen Parteilichkeit und Stilisierung zu halten, wird in einzelnen Einstellungen immer wieder deutlich, in denen sich seine Intentionen zur Metapher verdichten. Als Vinz den beiden Gefährten zum ersten Mal die Pistole zeigt, schrecken die Freunde zurück und weisen ihn ab, indem sie davonlaufen: Die Kamera isoliert dabei den kahlköpfigen Vinz, der selbstvergessen über die Waffe streichelt und plötzlich hochschreckt, als er merkt, dass er allein ist.
Nicht deine, sondern unserer Welt
Das schönste Bild, das Kasssovitz für die überlebensnotwendige Solidarität untereinander findet, ist dezent an den Rand gesetzt. Nachdem Saïd und Hubert verhaftet, gequält und erniedrigt, aber anschließend wieder freigelassen wurden und im mondänen Stadtzentrum auch Vinz wiedergefunden haben, wandelt Saïd im Vorbeigehen mit der Sprühdose einen Werbeslogan ab: Die Welt ist nicht mehr „dein“, sondern „unser“: Miteinander, nicht getrennt können sie dem Morgen entgegensehen. Doch da flimmert die Nachricht von Abdels Tod über eine riesige Videowand.
Es sollte ein Film gegen die Polizei werden, der seinen Ausgang in einem realen Ereignis nimmt. 1992 wurde ein 18-jähriger Jugendlicher während eines Verhörs auf dem Revier von einem Polizeibeamten durch einen Kopfschuss getötet. In dem Film, so Kassovitz, sollten sich die Bewohner der Trabantenstädte wiederkennen. Doch „Haß“ ist über Authentizität und Dokumentation hinaus weit mehr: eine lebensnahe Parabel über Gewalt und ihre Folgen, eine bedrängende, differenzierte Exkursion ins Innere des Hasses, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Aber auch eine Anklage, die zum Handeln aufruft.