Filmplakat von LOST IN THE NIGHT

LOST IN THE NIGHT

Drama, Thriller, Krimi
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Filmkritik

„Ich fühlte auf einmal, dass es mir ganz egal sein würde, ob die Welt existierte oder es nirgends etwas gäbe. Ich begann mit meinem ganzen Wesen zu merken und zu fühlen, dass es um mich herum nichts gab.“ Der namenlose Erzähler von Dostojewskis „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ ist Solipsist, ein weltvergessener Narzisst, der sich seinen Mitmenschen immer gleichzeitig über- und unterlegen wähnt. Ein Traum, in dem er eine zweite, paradiesische Erde in den Sündenfall führt, bekehrt ihn schließlich zur Nächstenliebe.

Ein Zitat dieses eigentümlichen literarischen Geschöpfs eröffnet den neuen Film des mexikanischen Filmemachers Amat Escalante. „Lost in the Night“ fragt nach der Beziehung zwischen Künstler und Welt, nach einem menschlichen Blick, der kein Äußeres mehr kennt und alles in Innerlichkeit verwandelt. Der Film ist voll von Selbstbespieglern und willentlich Daseinsfremden. Doch Escalante ist kein Regisseur, der solche Menschen mit einem belehrenden Traum davonkommen lässt. Er ist kein Didaktiker. Ihre Albträume haben noch am Tage, unter der gleichgültig brennenden Sonne, Bestand.

Der Bau eines Bergwerks als Sündenfall

Alles beginnt mit dem politischen Disput um ein Bergwerk, das im mexikanischen Hochland erbaut werden soll. Während einige der Einheimischen sich über die neu geschaffenen Arbeitsplätze freuen, befürchten andere Umweltverschmutzung und die Ausbeutung der Einheimischen durch die kanadischen Eigentümer. Noch bevor die erste Gewalttat geschieht, liegt ein Gefühl von Schuld in der Luft. Und bald lässt das potenzielle Geld tatsächlich eine Umweltaktivistin namens Paloma in nächtlicher Dunkelheit und Blaulicht verschwinden.

Ihr Sohn Emiliano (Juan Daniel García Treviño) ist auch drei Jahre später noch auf der Suche nach seiner Mutter. Als ein Freund verletzt wird, trifft er im selben Krankenzimmer zufällig auf einen Polizisten mit schweren Verbrennungen, der ihm unter Schmerzen kryptische Hinweise auf einen Notizblock kritzelt. Die Spur führt ihn zu der berühmten Schauspielerin und Sängerin Carmen Almada (Bárbara Mori), die mit ihrer Tochter, der Influencerin Mónica (gespielt von Ester Expósito, die selbst 25 Millionen Follower auf Instagram hat), und ihrem Ehemann, dem provokanten, religionskritischen Künstler Rigoberto Duplas (Fernando Bonilla) in ein edles Designhaus an einem See einzieht.

Die indiskrete Schamlosigkeit der Bourgeoisie

Emiliano bietet sich der wohlhabenden Familie als Handwerker und Haushaltshilfe an, um herauszufinden, was genau sie mit den Vorgängen rund um das Bergwerk zu tun hat. Ein Szenario, irgendwo zwischen Pasolinis „Teorema“ und der Welle zeitgenössischer Filme und Fernsehserien, die sich mit der indiskreten Schamlosigkeit der Bourgeoisie beschäftigen: „Triangle of Sadness“, „The Menu“, „Knives Out“, „White Lotus“, „Succession“ und viele mehr.

Denn die Almadas können sich notfalls wegen ein paar Sommersprossen zum Hautarzt fliegen lassen, während sich Menschen wie Emiliano zu Tode arbeiten. Doch zumindest unbewusst scheinen sie sich für die zunehmende Ungleichheit zu schämen. Genau wie Dostojewskis Figur von einem „Sternchen“ am Himmel zum Kauf eines Revolvers animiert wird, scheint auch bei diesen wohlhabenden Künstlertypen der Narzissmus lückenlos in eine Todessehnsucht überzugehen. Mónica etwa stellt für ihre Follower immerzu Selbstmorde nach, so ähnlich, wie der Schriftsteller Yukio Mishima seinen Seppuku zuvor in Filmen und Geschichten erprobt hatte. Oder wie in der schwarzen Komödie „Harold und Maude“. Rigoberto hingegen fotografiert für seine Kunst Leichen und wird später den eigenen Tod für eine aufgezeichnete Performance zumindest in Kauf nehmen. Wie Amat Escalante stammt diese Figur aus Spanien, auch die Sehnsucht nach transgressiver, blutbefleckter Kunst verbindet sie. So tritt der Regisseur also auch in den Chor der Selbstbespiegler ein.

Die Sehnsucht, zur Wirklichkeit durchzudringen

Er nimmt sich selbst nicht aus, wenn er fragt, wie das Kino auch heute noch zur äußeren Wirklichkeit durchdringen kann. Wenn wir die ganze Welt vermittelt rezipieren, als wäre sie Fiktion, wie kann sie dann mehr sein? Ist das Kino eine Kirche, weil es eine Begegnung mit dem Anderen ermöglicht, oder weil es einen Ablasshandel erlaubt? Bekommen wir die Schrecken der Welt vorgeführt, um uns aufzuwecken oder um sie in harmlose Fiktion zu verwandeln? Die Selbstauslöschungsfantasien der Wohlhabenden, die es zuletzt so oft im Kino zu sehen gab, werden in ihrer ganzen Lächerlichkeit präsentiert.

Auch wenn die Gewalt immer noch eine große Rolle spielt, geht Escalante sieben Jahre nach seinem letzten Film behutsamer vor. Inszenatorisch ist er seinem Kollegen Carlos Reygadas, für den er auch als Regieassistent gearbeitet hat, noch nie nähergekommen. Die Kamera wandert in den Gesprächen frei und wissbegierig zwischen den Figuren umher und folgt dem unsichtbaren Netz des Begehrens, das alle Menschen verbindet. Wie in „Teorema“ ist Emiliano für alle in der Familie Projektionsfläche ihrer Sehnsüchte. Sie wollen den proletarischen jungen Mann besitzen und gebrauchen. Voyeurismus prägt „Lost in the Night“, verstohlene Blicke aus der Ferne, die Nähe simulieren. Die Kamera blickt aus dem Schatten der Nacht in beleuchtete Fenster.

Choreografie der Glasfassaden

Ohnehin ist da eine Choreografie der Glasfassaden, überall durchsichtige Mauern wie Smartphone-Displays. Als Emiliano zur Familie stößt, muss er zuerst Scheiben ersetzen. Später wird er nach einem Streit mit seiner Freundin vor vergitterten Fensterbalken stehen, man wirft Dinge von innen nach außen und umgekehrt. Escalante sucht nach Bildern für eine vermittelte Welt, lässt Figuren durch Ferngläser spannen und Aussichtsplattformen suchen.

Auch wenn der Blick oft so frei wandeln kann und auf so wenig Widerstand trifft, wird letztlich wenig aufgedeckt. Der Film dringt zu keiner großen Erkenntnis durch, findet keine Dostojewski-Epiphanien. Menschen sterben, als wäre es vorbestimmt; sie gehen in ihren eigenen Fiktionen auf, entkommen nicht den Geschichten, die sie sich über sich selbst erzählen. Alles ist Performance und alles ist Wirklichkeit. Noch die größten Affekte und Emphasen können nicht über einen tiefsitzenden Grundzweifel hinwegtäuschen, ständiges Gegenlicht erhellt nicht die blinden Flecken des Films. Escalante lädt zum gemeinsamen Zweifel ein: an der Macht, am Kino, an den Bildern, am Begehren, an uns selbst. Sicher ist am Ende nur eines – nur weil wir etwas nicht verstehen, es uns fremd bleibt und wir nicht dazu durchdringen, ist es noch lange nicht egal.

Veröffentlicht auf filmdienst.deLOST IN THE NIGHTVon: Lucas Barwenczik (30.7.2025)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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